Ein echtes Tabu-Thema: Inkontinenz - die Fähigkeit, Harn oder Stuhl im Körper zu halten. Ein Betroffener zeigt, wie er mit der Krankheit lebt, und macht anderen Männern Mut.
Jeder Ausflug in die Natur ist ein Glückspiel für Gerd Baum und seine Frau. Der 78-Jährige aus dem Breisgau ist harninkontinent, kann nicht mehr steuern, wann er Urin ablässt und wann nicht. Er ist auf Einlagen angewiesen. Kaum jemand spricht offen darüber, aus Scham. Er traut sich und geht offen damit um, will zeigen, wie er mit dem Leiden lebt.
Einlagen im Gepäck und die Toilette in Reichweite
Vor zwei Jahren wurde bei Gerd Baum Prostatakrebs festgestellt. Die Prostata wurde vollständig entfernt, auch umliegendes Gewebe und der Schließmuskel mussten entnommen werden. Die Einlagen gehören seither zum Alltag von Gerd Baum. Er muss die Situation akzeptieren. Je nachdem wie er sich belastet, was er isst und trinkt, braucht er jeden Tag etwa drei davon.
Der Ingenieur im Ruhestand hat früher große Projekte verantwortet, nun sind größere Unternehmungen kaum mehr möglich. Er muss seinen Tagesablauf so organisieren, dass er etwa alle zwei Stunden eine Toilette aufsuchen kann, um die Vorlage zu wechseln. „Also vier Stunden durch den Wald wandern geht definitiv nicht.“
Was sind die Ursachen für Inkontinenz?
Am Klinikum Schwarzwald-Bahr in Donaueschingen ist das Kontinenzzentrum Südwest angesiedelt. Geleitet wird es von Professorin Daniela Schultz-Lampel. Sie ist außerdem Mitglied im Expertenrat der Deutschen Kontinenz Gesellschaft. Die meisten Patienten hier wollen eine Zweit- oder Drittmeinung - das Zentrum ist für die schweren Fälle zuständig. Sie weiß: „Inkontinenz betrifft nicht nur Frauen, sondern auch Männer. Wobei, im mittleren Alter sind etwa vier Mal häufiger Frauen betroffen als die Männer. Wenn wir aber ins höhere Alter gehen - sprich ab 65, 70 Jahre, wenn auch die Prostata eine Problematik bei den meisten Patienten macht - dann holen die Männer auf. Und im Alter haben fast genauso viele Männer eine Inkontinenz wie Frauen.“
Die Zahl nimmt stetig zu - rund 2,5 Millionen deutsche Männer sind betroffen. Das liegt vor allem daran, dass Menschen immer älter werden. Rund 1.000 Männer pro Jahr werden allein im Kontinenzzentrum Südwest behandelt. Die Gründe sind vielschichtig.
- Bei Männern in jüngerem Alter sind es hauptsächlich neurologische Ursachen, die zur Inkontinenz führen - zum Beispiel Multiple Sklerose oder eine Querschnittslähmung.
- Im mittleren Alter sind es Männer mit einer gutartigen Prostata-Vergrößerung, die sowohl an Harndrang-Problemen als auch an Blasen-Entleerungs-Störungen leiden. Männer mit einer Prostata-Operation, meistens bei Prostatakrebs, können zumindest vorübergehend eine Inkontinenz haben.
- Im höheren Alter führen bei Männern meistens Probleme im Zusammenhang mit dem Gehirn zu Problemen mit der Steuerung der Blase, etwa bei einer Parkinson- oder Demenz-Erkrankung.
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Operation bei Inkontinenz: ja oder nein
Gerd Baum spricht in seinem Umfeld über seine Erkrankung. Mit der Diagnose an die Öffentlichkeit zu gehen, ist für ihn kein Problem. Er will das Thema dadurch aus der Tabu-Zone holen.
Seine Frau war anfangs skeptisch, fand den offenen Umgang schließlich aber doch gut, zumal viele Männer offensichtlich Scheu davor haben, zum Urologen zu gehen und sich untersuchen zu lassen. Gerd Baum hat sich gegen eine Operation entschieden. Er will mit 78 Jahren nicht mehr unters Messer. Seine Ärzte gehen davon aus, dass seine Inkontinenz mit der Zeit zumindest weniger wird. Er kommt mit den Vorlagen zurecht, hofft aber, irgendwann wieder unbelastet lange Spaziergänge machen zu können.
Was kann man gegen Inkontinenz tun?
Im Kontinenzzentrum Südwest arbeitet Professorin Daniela Schultz-Lampel täglich daran, Menschen mit Inkontinenz zu helfen. Die Therapie richte sich nach der Ursache, eine genaue Diagnose sei daher wichtig, sagt die Expertin.
Die Behandlung reicht von Physiotherapie über Medikamente, Botox, Operationen mit Bändern bis hin zu einem künstlichen Schließmuskel, der operativ eingesetzt wird. Die Professorin erklärt das Vorgehen an einem Modell: Eine Manschette dichtet die Blase ab, und auf Knopfdruck kann der Patient durch eine Pumpe, die im Hodensack implantiert ist, diese Manschette öffnen und wieder ganz normal Wasserlassen.
Kontinent durch künstlichen Schließmuskel
Im wenige Kilometer entfernten Schwester-Klinikum in Villingen-Schwenningen setzt ein Team von Urologen einen künstlichen Schließmuskel in die Harnblase eines Patienten ein, der ebenfalls seit einer Prostata-Entfernung unter Inkontinenz leidet. Der Patient ist währenddessen in einer Spinalanästhesie, wach und ansprechbar.
Professor Alexander Lampel, Ehemann von Professorin Schultz-Lampel, ist Chefarzt der Urologie und leitet die Operation. Etwa eine Stunde lang dauert der Eingriff. Alles verschwindet unter der Haut und ist später nicht mehr sichtbar. Die Risiken sind gering. Sobald alles abgeheilt ist, wird das System aktiviert, und der Patient ist wieder kontinent.
Hervorragende Heilungschancen
Professor Daniela Schultz-Lampel versichert, wenn die Ursache der Inkontinenz gefunden werde, könne in 98 Prozent der Fälle auch geholfen werden. Die Inkontinenz verschwinde entweder ganz oder man bekomme sie so gut in den Griff, „dass die Lebensqualität wieder zurückgewonnen wird.“
Mehr Infos zu unserer Expertin: Professor Daniela Schultz-Lampel, Kontinenzzentrum Südwest, Schwarzwald-Baar Klinikum, Villingen-Schwenningen
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