Polio-Impfquote rückläufig

Auch in Deutschland Gefahr von Kinderlähmung nicht gebannt

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Die Viruserkrankung "Poliomyelitis" oder auch "Kinderlähmung" ist in Deutschland eigentlich kein Thema mehr. Das Land gilt seit vielen Jahren als poliofrei. Effektive Impfkampagnen haben das Virus zurückgedrängt. Doch mit zunehmender Impfmüdigkeit in der Bevölkerung könnte die Krankheit zurückkommen. So geschah es auch in New York im Herbst 2022.

"Schluckimpfung ist süß – Kinderlähmung ist grausam" – der Werbespruch für die Impfkampagne hat sich einer ganzen Generation tief eingeprägt. In den 50er- und 60er-Jahren war Polio noch weit verbreitet.

Polio-Virus in einigen Weltregionen noch aktiv

An der Viruserkrankung starben damals weltweit zehntausende Menschen. Hunderttausende erlitten Lähmungen mit bleibenden Folgen. Erst die flächendeckende Schluckimpfung ab Anfang der 60er-Jahren zeigte Erfolg. Seit 1990 gilt die Viruserkrankung in Deutschland als ausgerottet, seit 2002 in ganz Europa. Es gibt aber immer noch Weltregionen, Pakistan und Afghanistan, wo der Wildtyp des Polio-Virus kursiert und noch nicht gänzlich zurückgedrängt werden konnte.

Seit 1998 wird in Deutschland mit einem inaktivierten Tot-Impfstoffen geimpft. Für den massenhaften Einsatz in afrikanischen und asiatischen Ländern jedoch wird weiterhin auf die Schluckimpfung gesetzt. Problematisch daran: Von den Lebend-Impfstoffen der Schluckimpfung abgeleitete Viren können Polio ebenfalls auslösen.

Und so taucht das Virus auch immer wieder in Ländern auf, die eigentlich als poliofrei gelten. Im September 2022 beispielsweise gab es Poliofälle in New York. Die Stadt löste Katastrophenalarm aus. Grund: Die Impfquote in einigen Stadtvierteln ist mit unter 60 Prozent deutlich zu niedrig.

Risiko einer Polio-Infektion in Deutschland

Und in Deutschland? Wie hoch ist das Risiko einer Rückkehr von Polio hierzulande? Dr. med. Axel Ruetz, Facharzt für Orthopädie, behandelt im Polio-Zentrum des Katholischen Klinikums Koblenz-Montabaur Menschen, die sich in ihrer Kindheit mit dem Virus infiziert haben und bis heute an den Folgen der Krankheit leiden.

Dr. med. Axel Ruetz, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, leitet die Polio-Schwerpunktambulanz am Katholischen Klinikum Koblenz-Montabaur
Dr. med. Axel Ruetz, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, leitet die Polio-Schwerpunktambulanz am Katholischen Klinikum Koblenz-Montabaur

"Dass die Polio jederzeit als noch existente Infektion in der Welt nach Deutschland kommen kann, ist abhängig davon, ob wir einen guten Impfstatus in Deutschland haben. Die Weltgesundheitsorganisation spricht so von über 96 Prozent, dann ist eine Durchimpfung sicher und dann kann es zu keiner Endemie oder Pandemie kommen."

Alarmierend sind deshalb die Zahlen des aktuellen DAK Kinder- und Jugendreports 2022 zur Gesundheit und Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland: Während der Pandemie sei die Impfquote gegen Polio in Rheinland-Pfalz um 29 Prozent zurückgegangen, so der jährliche Report.

Aktuell ist die Impfquote in ganz Deutschland laut Experten vom Robert Koch-Institut mit im Mittel rund 90 Prozent zu niedrig, um sicheren Schutz vor einem Polio-Ausbruch zu bieten. Die gravierenden Folgen der letzten deutschen Epidemien sind noch sichtbar.

Überlebende der deutschen Polio-Epidemien leiden noch heute

So leben in Deutschland heute rund 60.000 Menschen über 60 Jahre, die sich in ihrer Kindheit mit Polio infiziert hatten und im Alter am sogenannten Post-Polio-Syndrom leiden. Christa Kaiser aus Dieburg beispielsweise. Sie erkrankte im Alter von fünf Jahren an Polio, war an den Beinen und an einem Arm gelähmt.

Christa Kaiser, Post-Polio-Patientin aus Dieburg
Christa Kaiser, Post-Polio-Patientin

Sie erholte sich zwar und führte ein ganz normales Leben, fast ohne Einschränkungen. Mit Anfang 50 jedoch tauchten Probleme auf, ein typischer Verlauf:

"Man wundert sich ja: Warum bin ich so schnell erschöpft, was ist der Grund? Die Schwäche in den Beinen, man kann nicht mehr so lange stehen und laufen. Und die Beine schmerzen dann, wenn sie überlastet sind, abends, man kann dann vor Schmerzen nicht einschlafen."

Die Post-Polio-Erkrankung ist eine Erschöpfungsreaktion der für muskuläre Bewegung zuständigen Nervenzellen. Weitere Überlastung aufgrund von Muskeltraining ist dabei kontraproduktiv, denn die Nervenzellen gehen dabei nur noch schneller kaputt. Das Problem bei der Behandlung dieser Patient*innen: Viele Ärzte haben heute nicht mehr genug Wissen über Polio, geschweige denn dem Post-Polio-Syndrom. Dass bei Vielen eine lange zurückliegende Kinderlähmung der Grund für Beschwerden im Alter sein kann, wird oftmals nicht berücksichtigt und Betroffene daher oft falsch oder gar nicht behandelt.

So wird das Post-Polio-Syndrom behandelt

Am Katholischen Klinikum Koblenz-Montbaur leitet Dr. Axel Ruetz die einzige Polio-Ambulanz Deutschlands. Patient*innen kommen von weit her, um hier, in Koblenz, Hilfe zu finden. Diese gelingt dank eines interdisziplinären Ansatzes: Neurolog*innen, Orthopäd*innen und Chirurg*innen arbeiten eng zusammen. So werden für die Beschwerden des Bewegungsapparates der Betroffenen Orthesen individuell gefertigt. Mit Hilfe von Gangbildanalysen überprüfen die Therapeut*innen dann, wie gut diese beim Gehen helfen. Auch Christa Kaiser wird so behandelt:

"Da hoff´ich jetzt halt, dass ich wieder in der Orthese ein bisschen stabiler gehen kann. Mit Krafterweiterung, das ist natürlich (schwierig). Aber man kann das, was man kann, stabiler tun."

Aber auch sanfte Physiotherapie wird in Koblenz angewandt und hilft Post-Polio-Patient*innen zu entspannen und Muskeln zu stabilisieren.

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SWR Fernsehen