Folge 656

18.09.2007 Reisetagebuch

Stand
Autor/in
Alexander Schweitzer
Alexander Schweitzer

Es ist eine Reise der ganz besonderen Art: die gesamten 2.500 Kilometer von Nürnberg nach Istanbul, zum alten Bahnhof Sirkeci werden mit Dampf zurückgelegt.

Suche nach dem Kirchendorf

Kurz nach der Abfahrt aus Sibiu fällt uns ein, das Thema "Kirchenburgen" zu behandeln. Spät aber nicht zu spät, weil wir nicht Richtung Osten über Brasov nach Bukarest fuhren, sondern auf der Südroute, da ist Cisnadie, zehn Kilometer südlich von Sibiu, der letzte Ort mit einer solchen Anlage. Michael hat den Küster mit dem Kirchenschlüssel gefunden. Und die gewünschten Motive geliefert. Kirchenburgen entstanden im 13. und 14. Jahrhundert. Es waren Wehrdörfer der evangelischen Siebenbürger Sachsen gegen die Angriffe der Türken.
Heute gibt es noch etwa 150 erhaltene Kirchenburgen, die zum Teil zum UNESCO Weltkulturerbe gehören.
Allerdings sind in den vergangenen Jahrzehnten viele Bewohner nach Deutschland übergesiedelt. Es leben nur noch wenige Deutsche in Siebenbürgen und es ist leider abzusehen, wann diese Epoche komplett Vergangenheit geworden ist.

Scheinanfahrten

Der Tag beginnt mit zwei Scheinanfahrten und einer eher zögerlichen Sonne. Aber das Motiv mit Gitterbrücke ist schön. Über den Olt geht es, ein Flüsschen, das wir an diesem Tag noch des öfteren Überqueren. Unser Zug wird von demselben Dampflokdoppelpack gezogen, wie am Nachmittag zuvor. Mit den ersten Sonnenstrahlen am späten Vormittag leuchteten die goldenen Kessel- und Schornsteinringe der Lokomotiven. Glänzende Loks einfach.

Bahnidylle

Eine traumhafte Situation erleben wir in Zavideni an der Ausfahrt. Dort im Stellwerk tut Ionelle Taschka Dienst. Sie ist von unserem Auftauchen ein wenig überrumpelt, tut aber ihren Dienst weiterhin gelassen: Schranke runter, Regionalahn, Schranke hoch, Signal hoch, wunderbare Stellwerkstechnik aus dem letzten Jahrhundert und alles funktioniert wie am Schnürchen.
Der Blick aufs Bahngelände mit dem Schuppen rechts, Telegrafenmasten, einem tiefblauen Himmel, Dampflok und Flügelsignale. Und das Gefühl unendlicher Weite. Ein Motiv, wie aus dem Bilderbuch.

Erstaunte Betrachter

Ins Gespräch kommen wir auch mit Sorina Marinescu, sie fragt, ob wir spanisch könnten, sie selbst hat ein Jahr dort gearbeitet. Jetzt ist sie gerade bei ihrer Mutter zu Besuch und steht mit mehreren Personen am Tor des Hauses gegenüber des kleinen Stellwerks, mit viel Kinderwäsche auf der Leine. Das dazu gehörige Baby schläf selig auf dem Arm seiner Mutter und lässt sich wenig später auch nicht durch die Auspuffschläge oder durch die schwarzen Rauchfahnen aus der Ruhe bringen..
Sorina erzählt uns weiter, dass ihr Vater ebenfalls bei der Bahn arbeitet, auf dem Stellwerk bei der Einfahrt. Normal ist ein 12 Stunden Tag, dann 24 frei wieder 12 Stunden und nach einer 48 Std. Woche gibt es drei Tage frei.
Die alte Technik begeistert Sorina nicht, sie liebt das Moderne. Großes Erstaunen erzeugt bei ihr die Scheinausfahrt, mit den vielen Fans in Fotolinie kurz vor dem Stellwerk.

Walachei

Michael, unser Kameramann für die Bilder von außen, hat mit seiner zügigen Fahrweise den Zug des öfteren überholen können und zahlreiche Motive mit Zug in der Landschaft "erfahren". In Piatra Olt läuft ihm eine Herde Gänse vor das Objektiv, in fast exakter Marschordnung.
Die Walachei ist bei Sonnenlicht betrachtet eine ziemlich flache, hauptsächlich landwirtschaftlich genutzte Gegend mit vielen Maisfeldern und Grünflächen, einigen wenigen Bäumen auf den Feldern, langen Straßendörfern, flachen Hügeln am Horizont und vielen Pferdefuhrwerken. Die Häuser befinden sich alle hinter Holz- oder Steinzäumen, Metalltore, teilweise Ziehbrunnen daneben, manchmal stehen Rohbauten neben den alten Häusern. Viele Kinder sind ebenfalls zu sehen.
In Piatra Olt sind zahlreiche Bewohner am Bahnhof, um dem seltenen Treiben beizuwohnen. Und die Gänse schnattern.

Begegnungen

Sie vermittelt Ruhe und Gelassenheit, die Walachei. Arm, aber nicht unzufrieden wirken die Bewohner. Ein Mädchen sitzt an der Waschstelle und bearbeitet die bunten Kleidungsstücke mit einer Bürste. Ein anderes Mädchen kommt mit Blechschüssel auf dem Kopf über die Bahntrasse ebenfalls zum Waschhäuschen. Später gesellen sich noch zwei ältere Frauen hinzu. Uns fragt ein Bewohner, der ein wenig englisch und französisch spricht, ob wir Inspektoren der Gitterbrücke seinen, wegen unserer roten Sicherheitswesten. Man warte schon lange darauf, dass die Brücke ausgebessert werden soll.
An der Brücke steht ein Angler, dahinter ein paar grasende Pferde, rechts Kühe, die sich auf dem Fußballplatz des Dorfes wohlfühlen und ein Kuhhirte, der mit strengem recht Gesichtsausdruck seine Herde abschreitet.
Insgesamt schauen einem die Dorfbewohner freundlich fragend hinterher, wir grüßen und sie lächeln zurück. Eine Begegnung zweier unterschiedlicher Welten.

Flachstellen und Co.

Es riecht nach frisch gebackenen Keksen an der östlichen Ausfahrt von Rosiori Nord. An der Bahntrasse stehen zwei Polizisten.
Pferde grasen am Wegrand, Pferdegespanne fahren, Schafe mit einem alten Hirten zeihen nach Hause, nicht ohne vorher das Kameramikrophon zu inspizieren.
Ausfahrt im Streiflicht, aber noch nicht ganz golden. Auf dem Weg nach Bukarest geht es dann ein wenig drunter und drüber. Lok 231 065 soll einen Schaden haben, so erfahren wir über das Handy. Den haben bereits einige Wagen genommen, weil durch unsachgemäßes Bremsen Flachstellen in einige Räder gefahren wurden.

Die Betreiberfirma der Dampfrösser soll in finanziellen Problemen stecken, deshalb hat Lok 230 die Arbeit verrichtet, dabei den Zug gezogen und die Vorspannlok 231 geschoben. Diese hat auf diese Weise Öl gespart. Nun ist sie aber nicht mehr fahrfähig und der fleißigen 230 reichen ihre Ölvorräte nicht. Dank des Organisationstalents von Armin Götz und seiner Mannschaft wird in Videle eine Diesellok vor den Sonderzug gespannt, damit unser Zug wenigstens noch das Tagesziel Bukarest erreichen kann. Der Fahrplan ist längst Makulatur.

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Alexander Schweitzer
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